Eva Meyer

Ich als MacGhillie

 

„Wie jeder weiss“ und ich bei Kierkegaard lese, „trat Diogenes als Opponent auf, als die Eleaten die Bewegung leugneten. Er trat wirklich auf, denn er sagte nicht ein Wort, sondern ging nur ein paarmal hin und her, wodurch er jene ausreichend widerlegt zu haben glaubte.“ Aber glaubte er das nur? Oder hat er sie tatsächlich ausreichend widerlegt? Tatsächlich sagt er kein Wort und führt  - „als Opponent“ und „wirklich“  - ein Déja-vu auf: Er nimmt ein Gegenwärtiges wahr, als ob es schon einmal gewesen wäre, und vergegenwärtigt es gleichzeitig umgekehrt, in der Tatsache des Wahrnehmens selbst. Es ist dann im Weiteren eine Frage der Zeit, ob diese Umkehrung eine eigene Beweglichkeit erreicht. Ob das Gewesene aufhört, vergangen zu sein, und mit Möglichkeit aufgeladen wird. Das, was mit Argumenten nicht funktioniert, und das Gegenteil bewirkt von dem, was Argumente sollen. Kein kritisches oder verfremdendes Hinterfragen, sondern das Schaffen eines eigenen aktuellen und riskanten Bilds. Diogenes, der ein paarmal hin und her geht. Das widerlegt nichts und ist doch ausreichend, um die Wahrnehmung selbst in Bewegung zu versetzen, sie außerhalb jeglicher Repräsentation der Bewegung mit einer dynamischen Spannung aufzuladen, anstatt eine Vermittlung einzuführen, die bloß die eines bestimmten Denkens und der Allgemeinheiten dieses Denkens wäre.

      Wie jeder Kierkegaardleser weiß und ich als McGhillie mitteile, steht dieses Bild einfach da und wird nicht vermittelt, wenn Kierkegaard sich für das Problem der Wiederholung zu erwärmen beginnt und ich mir diese Erwärmung wie ein Kleid anziehe. Stattdessen gibt es einen Schnitt zwischen dem, was jeder weiß, und einem Neuanfang als Erzählung eines Ichs: „Als ich mich, zumindest gelegentlich, längere Zeit mit dem Problem beschäftigt hatte, ob eine Wiederholung möglich sei und welche Bedeutung diese habe, ob etwas durch Wiederholung gewinne oder verliere, fiel es mir plötzlich ein: Du kannst ja nach Berlin reisen, da bist du früher schon einmal gewesen, und nun überzeuge  dich, ob eine Wiederholung möglich ist und was sie zu bedeuten hat.“ Bei sich zu Hause war er mit diesem Problem nahezu ins Stocken geraten. Aber er weiß, er hält es durch, dass die Wiederholung „eine sehr wichtige Rolle in der neueren Philosophie spielen“ wird. So wie die Griechen lehrten, „daß alles Erkennen ein Erinnern ist, so will die neue Philosophie lehren, daß das ganze Leben eine Wiederholung ist“. Und schon wird das Anfangsbild, nein, nicht vermittelt, es wird wiederholt: „Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert.“ Dazwischen aber klafft ein Schnitt, der dieses Bild dem Strom der Bedeutung entzieht, es nach vorwärts erinnert, nicht als chronologische Pause, sondern Schnitt für Schnitt, als Zeichen der Zeit in Serie, die sich im Anschließen weiterer Bilder einer neuen Freiheit erfreut.

      „Die Hoffnung ist ein neues Stück Kleidung, steif und glatt und glänzend, man hat es jedoch nie angehabt und weiß daher nicht, wie es einen kleiden wird und wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleidungsstück, das, so schön es auch ist, doch nicht paßt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unzerschleißbares Kleid, das fest und doch zart anschließt, weder drückt noch schlottert.“ Anders als die Unruhe der Hoffnung, die mich nach Berlin treibt, und die Wehmut der Erinnerung, mit der ich erkennen muss, dass ich sie nicht auffrischen kann, hat die Wiederholung „die selige Sicherheit des Augenblicks“. Doch eben deshalb gerate ich mit meinen Argumenten ins Stocken.

      Was zählt, ist der Schnitt, genauer: die unvermittelten Zustände eines Ichs, das die Wiederholung als Differenz zwischen Hoffnung und Erinnerung bewohnt und ihr in der Sicherheit des Augenblicks zwischen nicht mehr und noch nicht eine Leerstelle einräumt. Bald ist sie das leere Ich der Sprache und bereit, mich in sich aufzunehmen, bald ist sie ein MacGhillie, durch den hindurch ich stets ein anderer bin. Doch anders als das leere Ich der Sprache, das bereit ist, jedes Subjekt in sich aufzunehmen, ist der MacGhillie keine strukturelle, sondern eine individuelle Leerstelle. Er lässt sich in keine Vorstellung von sich einsperren und verkörpert eine davon abweichende Bewegung. Wenn ich mir den MacGhillie anziehe, beziehe ich mich auf eine Geschichte von Camouflage-Experimenten zu strategischen Zwecken – wurde nicht ein Ghillie-Anzug im 19. Jh. in England für Jäger zur Tarnung entwickelt und im Zweiten Weltkrieg eingesetzt? Doch was immer ich davon erinnere oder mir davon erhoffe ist selbst camoufliert, wenn ich mir bei der Künstlergruppe knowbotic research in Zürich einen Ghillie-Anzug ausleihe. Wenn ich mir in der Sicherheit dieser Tarnung eine Differenz zwischen dem faktisch Bestehenden und seiner ideellen Dimension einräume und mich zwinge, an diese zu denken. Wie aber geht es weiter? Ganz einfach, indem es weitergeht. Indem ich mir Zeit lasse zu leben und nicht sofort einen Vorwand suche, mich wieder aus dem Leben heraus zu schleichen, zum Beispiel unter dem Vorwand, etwas Bestimmtes zu wollen, sagen wir, unsichtbar zu sein. Schließlich möchte ich die Differenz zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren an mir selbst ermessen, ohne sie zum Gegenstand einer Repräsentation zu machen und sie der Identität unterzuordnen, auch nicht durch ihren Bezug auf ein Drittes als Zentrum eines Vergleichs zwischen zwei Formen, die sich unterscheiden. Wohl aber durch ihren Bezug auf ein Drittes als Wiederholung, die festhält an der Differenzierung und mich die Welt bewohnen lässt, statt sie nach einer Idee zu entwerfen.

      Je mehr Zeit vergeht und wieder vergeht und noch mal vergeht, und es sogar passiert, dass ich in der Zeitentwicklung meiner Erzählung weiter vorgerückt bin, als ich eigentlich wollte, desto beständiger muss ich mit Kierkegaard wiederholen, „daß es aus Anlaß der Wiederholung ist, daß ich alles dies sage. Die Wiederholung ist die neue Kategorie, welche entdeckt werden soll.“ Denn diese Kategorie würde „gerade das Verhältnis zwischen Eleaten (Sein) und Heraklit (Bewegung, Werden)“ erklären, sie sei „eigentlich“ das, „was man irrtümlicherweise Mediation genannt hat“ und Kierkegaard lieber „Interesse“ nennt: „die Wiederholung ist das Interesse der Metaphysik und zugleich das Interesse, an dem die Metaphysik strandet“. Weil sie darauf besteht, mich aus der Welt auszuschließen, mich ihr gegenüberzustellen oder bestenfalls im Übergang zur Welt erscheinen zu lassen, dann aber nur in sich selbst widersprechenden Begriffen.

     Wenn sie mich aber einbeziehen würde, nicht meta-physisch, sondern physisch, dann wäre ich das, was „inter est“, was dazwischen ist und die Metaphysik scheitern lässt. Ich würde nicht mehr über die Welt sprechen, sondern mich in ihr selbst abbilden, mich in ihr wiederholen. In anderen Worten: Ich würde nicht nur das Erkannte mit welcher Theorie auch immer beschreiben, sondern auch das Erkennen. Dafür aber brauche ich Zeit. Nicht nur den „zweitausendjährigen Streit“ seit „dem philosophischen Schisma zwischen Eleatismus und Heraklitismus“, den Günther in der Frage zusammenfasst: „ob Temporalität eine lediglich subjektive Form der Anschauung ist, die mit dem Erlöschen der von der Welt sich abtrennenden Subjektivität ebenfalls verschwindet“, eine Frage übrigens, deren pro und contra Argumente sich heutzutage in der Gegenwart virtueller Welten weiter zuspitzen. Ich müsste auch den Sprung aus diesem Streit heraus wagen, den Günther andeutet, wenn er diese Fragestellung selbst in Frage stellt und der Zeit zugesteht, dass sie „sowohl subjektiv als auch objektiv ist und nur in dieser Doppelgesichtigkeit begriffen werden kann“. Um hier aber nicht noch einmal einen sich selbst widersprechenden Begriff stehen zu lassen, vollzieht Günther seinen angedeuteten Sprung, indem er sich auf Hegels dialektische Logik bezieht. Er verwirft deren „Einschränkung“, dass „diese Eigenschaft der Zeit sie dem Zugriff der formalen Logik endgültig entzieht“, und greift das Problem der Subjektivität von der Kybernetik her wieder auf. Mit ihr postuliert er „eine wenigstens partielle Wiederholbarkeit, resp. Abbildbarkeit der Subjektivität des Ichs“ in seiner technischen Wiederholung, mit der es sich „ein physisches Bild seiner Bewußtseinsvollzüge“ macht.

     Nun sind aber Wiederholung und Abbildung nicht dasselbe, wenn es um eine Technik geht, die das Zeitproblem des erkennenden Subjekts involviert. Das erkennende Subjekt soll sich ja nicht nur im Vergangenen (Erinnerung, Sein) abbilden, sondern sich auch im Zukünftigen (Hoffnung, Werden) wiederholen können. Solange diese Alternative jedoch kommensurabel bleibt mit der von Sein und Nichts, spielt die Zeit weiterhin nur eine unsichtbare Rolle. Setzt man aber eine Inkommensurabilität voraus und hält zugleich an der Wahrheit des Seins fest, hat man einen in sich widersprüchlichen Begriff von Zeit, der nur verschleiert sichtbar wird. Ich als MacGhillie kann jetzt mit Heidegger zwar einsehen, dass Identität kein Grundzug im Sein ist: „Sein gehört mit dem Denken in eine Identität, deren Wesen aus jenem Zusammengehörenlassen stammt, das wir das Ereignis nennen. Das Wesen der Identität ist ein Eigentum des Er-eignisses.“ Ein Ereignisraum aber, der kein sekundäres Produkt der Identitätsrelation von Denken und Sein ist, muss Eigenschaften haben, die das erstmalige Eigentum verdrängen, weil in ihm schließlich nichts mehr zu erinnern ist.  Hier zeigt sich Günthers Sprung, wie er wirklich auftritt: Statt sich für Sein und Nichts weiterhin „der gleichen metaphysischen Sprachgestalt“ zu bedienen und auch noch in der Verneinung vom Sein zu reden, nimmt er im Nichts eine „höhere Verneinungskraft“ an, „als sie durch die Wahrheit des Seins geliefert wird“. Mit ihr verlässt er den Raum des Seins, diese „gewesene Freiheit“ des Subjekts, um das Gebiet ihrer zukünftigen Wiederholbarkeit zu betreten.

         Ein Glück ist es, dass man von mir als MacGhillie keine Erklärung verlangt, denn ich habe meine Theorie aufgegeben und lasse mich treiben. Was ich nun mache? Ich gehe wie im Schlaf am Tage und liege wach in der Nacht. Mit Pascal frage ich mich, ob es nicht sein könne, dass das wache Leben „selbst nur ein Traum ist, dem die anderen Träume aufgepfropft sind und aus dem wir zum Tode erwachen? Dieses ganze Verrinnen der Zeit und des Lebens und diese wechselnden Körper, die wir empfinden, die unterschiedlichen Gedanken, die uns dabei bewegen, sind vielleicht nur Täuschungen, die dem Verrinnen der Zeit und den leeren Trugbildern in unseren Träumen gleichen.“ Aber das ist es ja, was mich treibt: das Verrinnen der Zeit, wie sie mir im leeren Trugbild erscheint, weil ich das Ungleiche an mir nicht ausgleichen kann und es daher stets eine Differenz von Differenz erzeugt. Ist  also die Bedingung dessen, was erscheint, nicht der Raum und die Zeit, sondern das Ungleiche an sich, wie es nicht mediatisiert werden kann und deshalb intermedial wiederholt werden muss?

       Was es für einen Denker bedeuten muss, eine neue Kategorie zu entdecken, das bedeutet es für mich als MacGhillie, mit der Sprache herauszurücken. Das würde eine Sprache sein, die sich aus sich selbst heraus entwickelt, die immer mehr an Anschaulichkeit, die aus ihr heraus weist, verliert und sich zunehmend in Wiederholungen innerhalb ihrer selbst ausbreitet. In ihr würde „das selbe“ sich nicht mit dem gleichen“ decken, „auch nicht mit dem leeren Einerlei des bloß Identischen. Das gleiche verlegt sich stets auf das Unterschiedslose, damit alles darin übereinkomme. Das selbe ist dagegen das Zusammengehören des Verschiedenen aus der Versammlung durch den Unterschied. Das selbe läßt sich nur sagen, wenn der Unterschied gedacht wird. Im Austrag des Unterschiedenen kommt das versammelnde Wesen des selben zum Leuchten. Das selbe verbannt jeden Eifer, das Verschiedene immer nur in das gleiche auszugleichen. Das selbe versammelt das Unterschiedene in eine ursprüngliche Einigkeit. Das gleiche hingegen zerstreut  in die fade Einheit des nur einförmig Einen.“ So dichterisch wohnt Heidegger mit Hölderlin, während ich als MacGhillie das Selbe probiere, wohlgemerkt nicht das Gleiche, denn anders als das Gleiche ist das Selbe nicht das, was jeder weiß, sondern eben der Schnitt, der mich davon trennt und nur unter der Bedingung dieser Trennung damit verbindet. In Wahrheit ist die Verbindung zwischen mir und dem MacGhillie nur dann fruchtbar, wenn er mich auf diesen Schnitt bezieht. Wenn er mich in meine größtmögliche Verschiedenheit von mir selbst abspaltet, doch so, dass eine jede Verschiedenheit wiederum ein Selbst ist, das transferiert und versammelt. Womöglich beginne ich die Tragweite dessen zu denken, was ebenso trennt wie vereint, und eine Sprache dafür zu erfinden, die weiter reicht als das Erkennen.

       Unglücklicherweise bin ich nicht der Künstler, der Kraft und Ausdauer zu einer solchen Leistung hätte. „Jeder urteile, wie er will, über das hier von der Wiederholung Gesagte, er urteile auch, wie er will, darüber, daß ich dies hier sage und auf diese Weise, da ich nach Hamanns Exempel ‚mit mancherlei Zungen mich ausdrücke und die Sprache der Sophisten, der Wortspiele, der Kreter und Araber, Weißen und Mohren und Kreolen rede, Kritik, Mythologie, Rebus und Grundsätze durcheinander’“ schwatze und sogar hin und wieder argumentiere. „Vorausgesetzt, daß es nicht reine Lüge ist, was ich sage, würde ich es vielleicht am richtigsten machen, wenn ich meine Gedankensplitter einem systematischen Begutachter einsendete, vielleicht könnte dann etwas daraus werden, eine Anmerkung zum System – großer Gedanke! So hätte ich nicht vergebens gelebt!“, mich aber vor der Zeit aus dem Leben geschlichen und einer Meta-Ebene überantwortet. Und überlegen Sie doch selbst: Welcher Begutachterposten könnte denn diese Gedankensplitter theoretisieren? Und welches Privileg, welche Kontrolle würde dieser Theorie eigentlich durch solch einen Überblick über das, was sie als Wirklichkeit bestimmt, verschafft werden?

    Kann schon sein, dass ich der Gedankensplitter müde werde, es satt habe, unbedeutend zu sein und weiterhin verdeckt zu hausen. Ich könnte sogar – mit Kierkegaard – beschließen, mein Experiment in „mancherlei Zungen“ fahren zu lassen und zurück zu mir nach Hause zu gehen. „Meine Entdeckung war nicht bedeutend, und doch war sie bemerkenswert; denn ich hatte entdeckt, daß es überhaupt keine Wiederholung gab, und dessen hatte ich mich vergewissert, indem ich dies auf alle möglichen Weisen wiederholte.“ Indes, „meine Hoffnung“ richtet sich jetzt „auf mein Zuhause“, wo ich „ziemlich sicher damit rechnen“ konnte, „alles fertig zur Wiederholung zu finden“. Doch was geschieht?  Nach meiner Abreise hat mein Diener mit „dem Umsturz“ des Großreinemachens begonnen. Ich sehe „das Entsetzliche: das Unterste“ ist „zuoberst gekehrt“. Der ertappte Diener reagiert „kopflos“ und  schlägt „die Tür wieder vor mir zu“. Nicht nur vor mir, sondern auch vor der Wiederholung, auf die ich so ziemlich sicher gerechnet habe. „Meine Not“ erreicht „ihren Höhepunkt“ und „meine Prinzipien“ brechen zusammen. Ich muss jetzt „das Schlimmste befürchten“, nämlich „als Gespenst behandelt zu werden“. Bin ich selbst ein MacGhillie geworden? Bin ich ein heimsuchender Wiedergänger, der seinen Ort verloren hat und in einer doppelten Wirklichkeit ständig die Grenze passiert?

      Meine unbedeutende und doch bemerkenswerte Entdeckung, dass es keine Wiederholung gibt und dass ich dies auf alle möglichen Weisen wiederholen kann, heißt vielleicht nur, dass die Wiederholung nichts am sich wiederholenden Objekt ändert, doch ganz bestimmt ändert sie etwas an mir. Ich als MacGhillie bin weder ein primäres noch ein übertragenes Bild. Ich bin ein Bildsein. Davon kann ich mir kein Bild machen, deshalb brauche ich auch keine Phantasie.  Aber ich brauche eine Umgebung: Stimmungen, Gefühle, Zustände, Gedanken, die mich vorantreiben. Leicht und flüchtig wie die Erscheinungen es sind, ein Trugbild, ein Gespenst, ein blinder Fleck, der als Ich die philosophischen, literarischen, künstlerischen Archive durchgeistert. Leicht und flüchtig wie die Worte es sind, die ich dabei mitnehme, um mir daraus eine Sprache zu machen, die wie eine laufende Kamera meine Bewegungen aufnimmt und die medial gegebene Sichtbarkeit dieser Bewegungen weiterhin steigert, damit Sie mitgehen können.

     Das aber wäre eine Sichtbarkeit, die trotz Ihres Mitgehens kein massenmediales Subjekt produziert, wohl aber mich als MacGhillie zum Helden meiner Erzählung befördert. Statt einen Helden zu erfinden und sein Autor zu sein, versetze ich mich in eine Unentscheidbarkeit, die es mir erlaubt, in unterschiedlichen Perspektiven zu schreiben und in der Montage dieser Perspektiven als undurchsichtiger existentieller Held aufzutreten. Gewiß handelt es sich hier um einen ziemlich idiosynkratischen Helden, der von sich selbst nicht weiß, ob er auf der Oberfläche der Dinge bleibt oder in die Tiefe der Reflexionsfähigkeit dringt. „Irgendwie“ hängt er mit Melville „an der seltsamen Lieblingsvorstellung, daß tief verborgen in allen Menschen – wie auch in einigen Pflanzen und Mineralien – gewisse wundersame und geheimnisvolle Eigenschaften schlummern, die durch irgendeinen glücklichen, aber sehr seltenen Zufall (wie Bronze dadurch entdeckt wurde, daß beim Brand von Korinth Eisen und Kupfer miteinander verschmolzen) auf dieser Erde in Erscheinung treten können.“

       Können - ein schönes Wort! Auch wenn der Held meiner Erzählung hier wieder nur einen Wink gibt und keine einsichtige, evidente, vernünftige Entscheidung über die Beschaffenheit dieser Eigenschaften trifft, so zeigt er damit doch an, dass dies seine Grundbedingung ist, mit der er sich jeder systematischen Erfassung und Kontrolle verweigert: eine Eigenschaft, die kein abgeleitetes und beschreibbares Attribut ist, sondern eine Realkontingenz, die nur in Erscheinung tritt, wenn frei gewählt und sorgsam inszeniert wird. Seine Undurchsichtigkeit reduziert sich daher nicht auf eine systembedingte Notwendigkeit, die er lediglich akzeptiert in der Meinung, sich so den herrschenden Dispositiven und Kontrollmechanismen zu entziehen, nein, der Held meiner Erzählung macht sie zur Kunst.   

    Auch wenn es scheint, als wollte ich das Geheimnis meiner Subjektivität in der Ambivalenz zwischen meinen Rollen als Autor und als Held meiner Erzählung inszenieren, so gewinne ich dabei doch eine mit der Zeit wachsende Spontaneität dieser Wiederaufführung, die wiederholt, was mir fehlt: einen Helden, der mit meiner Realkontingenz wie mit einem Bild korrespondiert. Doch ist dies ein Bild, das mir nicht entspricht, so wie mir ein Abbild entsprechen würde. Das Bild wird sich selbst zum Bild und das funktioniert unabhängig davon, mit welcher Weltbeschreibung ich meinen Helden konfrontiere. Deshalb kann mein Held seine Identität wechseln, doch nicht als eine Vorstellung, die mein Unwissen überspielt. Denn nun hat er mich mit dieser wundersamen und geheimnisvollen Eigenschaft aufgeladen, die meine Potentialität ist, mein Zustand in futuro, der unentschieden ist und doch jederzeit fähig zur Entscheidung. „Potentiality - schreibt Peirce – is a positive capacity to be Yea and to be Nay; not ignorance but a state of being“.  

      Potentialität ist das Interesse der Wiederholung und das Interesse, an dem sie scheitert, wenn sie sich weiterhin einer Sprache bedient, die in dem uns vertrauten Sinn Erkenntnisse vermittelt, die sich auf ein vorgegebenes Sein beziehen. Doch Potentialität reduziert sich nicht auf ein Zwischenglied zwischen dem nicht mehr und noch nicht, wenn sie in Folge der Wiederholung selbst auftritt und diese auf eine neue Sprache hin öffnet. Und wenn der Held meiner Erzählung Ihnen als gesichtslose Einheit und anonyme Vielheit erscheint, so stiftet er eben deshalb weder Objektivität, noch System, noch Gemeinde. Aber er zeigt sein eigenes Gesetz, das Lebendigwerden an einer zuerst erlebten, dann irgendwie verwendeten Wiederholung, die das Gewesene aus dem eigenen Identitätsgefühl abstößt und sich als Archivierungsmaschine reflexiver Realprozesse auf Serienproduktion hin anlegt. Deshalb auch ist sie unabschließbar und schreibt sich in Fortsetzungen weiter, ja, ich muss nur weiter schreiben und dahingestellt sein lassen, was meinem Helden passiert, dieser Sichtbarkeitsressource für das Unvorhersehbare.

 

 

 

 

Gotthard Günther, Logik, Zeit, Emanation und Evolution, in: Beiträge zur

      Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. III, Hamburg 1980

  • Martin Heidegger und die Weltgeschichte des Nichts, in: Beiträge...Bd.III,

      Hamburg 1980

Martin Heidegger, „...dichterisch wohnet der Mensch....“ in: Vorträge und Aufsätze,

      Pfullingen 1954

 -    Identität und Differenz, Pfullingen 1957

Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, in: Werke II, Reinbek 1961

Herman Melville, Hawthorne and his Mosses, written by a Virginian spending a July

       in Vermont, in: Duyckinck’s Magazine, Juli 1850, zitiert nach Charles Olson,

       Nennt mich Ismael. Eine Studie über Hermann Melville. Nachwort von Klaus

       Reichert. Reihe: Literatur als Kunst, Hanser Verlag, München 1979 (Original

       1947)

Blaise Pascal, Gedanken, hg. Jean-Robert Armogathe, übers. Ulrich Kunzmann,

       Leipzig 1987 (131/434)

Charles  Sanders Peirce, zitiert nach Gotthard Günther, Martin Heidegger....., in:

       Beiträge....Bd.III, Hamburg 1980